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Historische Räume

„Wir gegen uns“: Nationalmannschaft und Bundesliga

20.06.2022
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Viele ostbelgische Fußballfans sind Anhänger eines deutschen Bundesliga-Clubs. Gleichzeitig sind sie begeisterte Anhänger der belgischen Nationalmannschaft. In Ostbelgien ist der Fußball ein besonderer Erinnerungsort.

Es gibt wenige Erinnerungsorte der Ostbelgier, die die Zerrissenheit der Erinnerungskultur so gut darstellen, wie Fußball. Woche für Woche pilgern Ostbelgier nach Dortmund, Köln, Aachen, Gelsenkirchen, Mönchengladbach, gar nach München oder schauen sich die Spiele ihres Bundesligavereins in der Stammkneipe an. Die Sendezeiten der „Sportschau“ bestimmen für viele den Samstagabend mit. Neben dem Wochenendritual des Fußballschauens leben die Erfolge der deutschen Vereine und ihrer Spieler wie Heldensagen in den Erzählungen ihrer Fans weiter. Tief ins Gedächtnis der Bevölkerung haben sich die Namen Uwe Seeler, Gerd Müller oder Günther Netzer eingebrannt.

In westlicher Richtung halten sich die Zuschauerströme in Grenzen. Standard Lüttich oder Anderlecht sind keine Unbekannten, aber an die rund 1600 ostbelgische Mitglieder zählenden Fanclubs von München (120), Köln (662), Gladbach (100), Gelsenkirchen (247), Hamburg (328), Dortmund (130), St. Pauli und Bremen reicht das Interesse aber nicht heran. Erst seitdem die K.A.S. Eupen in der ersten Division (Liga) spielt, hat sich auch eine solide Fangemeinde entwickelt.

Sieger der Herzen bleiben auch bei frühem Ausscheiden in WM oder EM immer die Roten Teufel. Alternativen zur Belgischen Nationalmannschaft können nur schwerlich gefunden werden.

Ein Beispiel hierfür ist die Weltmeisterschaft 1954: Im Frühjahr und Sommer 1954 berichtete vor allem das Grenz-Echo eingehend über die Vorbereitungen und Qualifikationsspiele zur Weltmeisterschaft und über deren Verlauf. Besondere Beachtung fanden dabei natürlich die Roten Teufel, die aber in der Vorrunde der WM 1954 ausschieden. Das Grenz-Echo konnte also nun getrost seine Sympathien jeder anderen Mannschaft entgegenbringen. Doch das Grenz-Echo brachte dem späteren Weltmeister Deutschland keineswegs sein Wohlwollen entgegen. Viel eher scheint es, dass die Österreichische Nationalmannschaft die Herzen der Redaktion erobert hatte. Die Gründe hierfür liegen wohl auf der Hand. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs war das Grenz-Echo um eine weitestgehende Abgrenzung vom Schicksal und dem Erfahrungsraum der jungen Bundesrepublik Deutschland bemüht.

Hier und da sollen in einigen Dörfern der belgischen Eifel 1954 die Gefühle allerdings etwas hochgekocht sein, sodass man insgeheim den Sieg des deutschen Nachbarn doch willkommen hieß. In der Nachkriegszeit waren die Sympathien für die deutsche Nationalmannschaft durchaus noch vorhanden. In den 1950er Jahren und 1960er Jahren gab es etwa das geflügelte Wort, das der Fußballinteressierte beim Spiel Belgien gegen Deutschland nutzte: „Wir gegen uns spielen“.

Zu einem Wandel kam es erst in den 1970er Jahren, da die belgische Nationalmannschaft eine Art letzte Bastion des Zusammengehörigkeitsgefühls des Landes wurde. Anhand der Nachnamen der Spieler kann kaum abgelesen werden, ob es sich um einen flämischen, wallonischen oder Brüsseler Spieler handelt. Die Fußballer spielen in einer Mannschaft ein gemeinsames Spiel. Die Mannschaft wird gewissermaßen zu einem Sehnsuchtsort der belgischen Gesamtidentität, ein Symbol der Belgitude.

Der Ostbelgier, der seit Jahrzehnten jedes Wochenende in Müngersdorf, auf Schalke oder im Westfalenstadion steht, tut etwas Anderes. Er will von der höheren Qualität der Bundesliga profitieren, aber gleichzeitig eine Identifikation mit der deutschen Nationalmannschaft umgehen. Er teilt dadurch aber – wohl unbewusst – einen nationalen Erinnerungsort mit seinem deutschen Nachbarn: die Bundesliga. Besonders stolz ist der ostbelgische Fußballfan, wenn es Spieler wie Pfaff, Wilmots, Mpenza oder De Bruyne in der Bundesliga geschafft haben.

Ein interessanter Erinnerungsort, der Fußball.

Lesetipp

Klaus Pabst, „‚Deutschland vor‘? Sympathien einer deutschen Sprachminderheit am Beispiel der Fußball-WM 1954“, in Jürgen Court et al., Jahrbuch 2008 der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Sportwissenschaft, Berlin 2010, S. 34-50.