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Ostbelgien für Einsteiger

Der 10. Mai 1940

30.08.2022
  • Labor
  • Ostbelgien für Einsteiger

In der deutschen Propagandapresse war der Einzug der deutschen Truppen im heutigen Ostbelgien am 10. Mai 1940 ein voller Erfolg. Die deutschen Soldaten seien mit Begeisterungsstürmen und Dankesbekundungen empfangen worden. Eine belgische Untergrundzeitung schrieb hingegen, dass die Bevölkerung kalt, zurückhaltend und niedergeschlagen auf die deutschen Soldaten reagierte.

Die Wirklichkeit sah wohl etwas nüchterner aus. Mit Sicherheit standen viele jubelnde Menschen am Straßenrand und beschenkten die Soldaten. Sie freuten sich über die „Befreiung“ durch Deutschland. Wie viele schlugen sich als Opportunisten nun auf die Seite des vermeintlichen Siegers? Wie viele blieben in ihren Häusern? Wie viele waren durch die Angst vor dem Krieg gelähmt? Wie viele wussten, dass sie die demokratischen Freiheiten des belgischen Staates verlieren würden? Wie viele sahen schon damals im Naziregime jene Menschen verachtende Diktatur, die Europa mit einem vernichtenden Krieg überziehen sollte? Zweifelsohne gab es beides: gewaltige Begeisterung und grenzenlose Bestürzung – und alle Schattierungen dazwischen.

Viele Bewohner des heutigen Ostbelgiens glaubten, ab 1940 jenes Deutschland zu erleben, von dem sie sich während zwanzig Jahren ein idealisiertes Bild gemacht hatten. Erst allmählich erlebten sie die Diktatur des ‚Dritten Reiches‘ als Enttäuschung. Diese Enttäuschung wurde durch harte Erfahrungen verstärkt: Ab September 1941 wurden die ersten Männer zur Wehrmacht eingezogen, 3.200 kamen um. Der totalitäre Staat versuchte, alle Lebensbereiche zu kontrollieren. Andersdenkende wurden verfolgt, verschleppt, getötet. Zudem lebten die Bewohner von Eupen und Malmedy als vollwertige Bürger im ‚Dritten Reich‘ mit allen Pflichten: Jugendliche mussten Mitglied in der Hitlerjugend werden, Erwachsene in nationalsozialistische Organisationen eintreten. Ihr Alltag war ein ganz anderer als der im besetzten Belgien. Das bedeutet aber nicht, dass sie alle Nationalsozialisten waren und sich mit dem nationalsozialistischen Gedankengut identifizierten.

Es ist wichtig diese Unterscheidung zu machen: Viele Europäer waren von den extrem-rechten und extrem-linken Parteien ihrer Länder in den 1930er Jahren fasziniert. Diese Parteien versprachen den Menschen die Verwirklichung politischer Utopien, d.h. angeblicher Idealwelten außerhalb von Rechtsstaat und Demokratie, sodass sie häufig eine Zusammenarbeit mit diesen extremen Parteien oder Diktaturen in Kauf nahmen. Das gilt auch für einen Teil der Bewohner Eupens und Malmedys. Doch sie waren nicht nur Verführte. Bei der historischen Betrachtung sollte nicht übersehen werden, dass ein Unterschied zwischen politischer Zugehörigkeit und dem Zugehörigkeitswunsch zu einem Staat existiert.

Die Differenzierung fällt aber oft schwer: In Ostbelgien gab es überzeugte Nationalsozialisten. Manche Ostbelgier nahmen die nationalsozialistische Diktatur in Kauf, um wieder deutsche Bürger zu sein. Andere waren Opportunisten. Organisierten Widerstand gab es kaum in der Region selbst. Widerständler flüchteten generell ins besetzte Gebiet, wo sie einem bestehenden Widerstandsnetzwerk beitraten. Über 60 Personen aus der Region wurden in einem Gefängnis oder in einem Konzentrationslager getötet.

  • Michel_Pauly
    Michel Pauly
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Meinung:

„In Luxemburg wird heute noch viel darüber diskutiert, wer aufgrund wessen zu einem „Nazi“, oder eher zu einem Kollaborateur, oder, abwertend auf luxemburgisch, zu einem „Gielemännchen“ (dt. wörtl.: „gelbes Männchen“; „gelb“ aufgrund der hellbraunen Naziuniformen) während des Zweiten Weltkrieges geworden ist. Das Attribut „Gielemännchen“ wurde großzügig nach dem Zweiten Weltkrieg verliehen, ganz gleich ob die Verleumdungen gegen eine Person begründet werden konnten oder schlicht auf übler Nachrede basierten. In den Verdacht ein „Gielemännchen“ zu sein, kamen all jene Luxemburger, die eine gewisse Rolle innerhalb der nationalsozialistischen Verwaltung Luxemburgs eingenommen hatten, ganz gleich ob sie dies unter Zwang oder freiwillig getan hatten. Ursachen für Verleumdung und Unterstellungen können schlichtweg der Hass auf alles Deutsche und was irgendwie damit in Verbindung gebracht werden konnte, und die Trauer über die persönlichen Verluste und Kriegserlebnisse gewesen sein. Ein Motiv basierend auf Hass und Trauer kann also der Wunsch nach Vergeltung sein, um seine eigenen Verluste erträglicher zu machen.“

In der Erinnerungskultur werden Versuche deutlich, sich von der Tätergruppe zu distanzieren, die dieses menschenverachtende Regime aktiv, als Mitläufer oder durch Gleichgültigkeit unterstützte.

  • placeholder
    Judith Molitor
Meinung:

„Ähnlich ist es – soweit ich es in meinem Umfeld nachvollziehen kann – in der Eifel verlaufen. (Und vermutlich in allen deutschen oder besetzten Gebieten.) Die Großeltern-Generation erinnert sich noch an regimetreue Personen ihres Dorfes und regionalen Umkreises. Damit sind alle Menschen gemeint, die sich in ihrer Meinungsäußerung offen nazistisch zeigten und/oder ein entsprechendes Amt innehatten, beispielsweise das eines Kreisleiters oder einer BDM-Führerin. Diskussionen um die vorhergehende Generation und ihre teilweise Mitschuld am Entstehen der Diktatur wurden erst in den letzten Jahrzehnten angestoßen.“

  • Claudia Kühnen_Aachen
    Claudia Kühnen
Meinung:

„Soweit ich es gelernt und erzählt bekommen habe, waren für die gesamte Welt alle Deutschen Nazis. Die Deutschen selbst wollten sich nicht mit den Geschehnissen des Krieges auseinandersetzten, und wollten eigentlich nur vergessen. Die Entnazifizierungsaktionen der Alliierten stießen in der Bevölkerung auf Widerwillen – niemand hatte etwas mitbekommen, alle hatten nur aus Angst um das eigene Leben und das Leben der Familie mitgemacht, und selbst bekannte Nazis wurden z.T. wieder in ihren alten Ämtern eingesetzt – als Richter z.B. Die Auseinandersetzung mit der „Vergangenheit“ und den Untaten während der Kriegsjahre (und auch davor) setzte erst mit der nächsten Generation ein – jene der Kinder der Täter/Opfer/Mittäter – und prägte als politisches Thema die Gesellschaft der 60er Jahre.“

  • Adeline_Moons
    Adeline Moons
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    Jeroen Petit
Meinung:

„Die Erinnerungskultur an die Kollaboration macht deutlich, dass häufig versucht wird, sich von jenen Menschen zu distanzieren, die als Mitläufer oder durch Gleichgültigkeit das Regime unterstützt haben. Auch in Flandern gibt es Gruppen, die sich hiervon distanzieren wollen. Ebenfalls gab es in Flandern aus verschiedenen Gründen Anhänger des diktatorischen Regimes. Weil man versucht, sich einerseits von der Kollaboration zu distanzieren und andererseits aus unterschiedlichen Gründen dem Regime folgte, haben diese Gruppen auch alle unterschiedliche Definitionen, von dem, was ein Nazi ist.”