5081620180703114519635
1919-1925

Das Gouvernement

Unter welchen Umständen kann oder sollte ein Gebiet den Staat wechseln? Gibt es dafür deutliche Richtlinien? Welche Bedeutung hat der historische Kontext? In einer Zeit, in der neue Kriege entfacht werden, ist die Frage auch im 21. Jahrhundert aktuell. Ein Blick auf die Geschichte Ostbelgiens zeigt, in welchem Kontext und unter welchen Umständen die Bewohner der Kreise Eupen und Malmedy 1920 Teil des belgischen Staates wurden und warum dieser Übergang nicht immer einfach für sie war.

  1. Erklärung
  2. Zeitleiste
  3. Lesetipps
  • Seit dem 11. November 1918 zog das deutsche Heer nach dem Waffenstillstand durch Belgien und auch durch die deutschen Kreise Eupen und Malmedy zurück ins Reich – als Verlierer. Doch wurden sie in der Heimat nicht unbedingt als solche empfangen. Der geschlagenen deutschen Armee folgten britische, französische und später belgische Truppen, die die Kreise Eupen und Malmedy und weite Teile des Rheinlandes besetzten.

    Seit Mitte des Kriegs waren sowohl in Deutschland als auch in Belgien Stimmen von Nationalisten laut geworden, die im Falle eines Sieges umfangreiche Annexionen planten. Während man in Deutschland mit großen Teilen der besetzten Nachbarländer liebäugelte, gründete der belgische Politiker Pierre Nothomb Ende 1918 das Comité de Politique nationale (CPN), das Gebietsabtretungen zugunsten Belgiens anstrebte: die Scheldemündung sowie die Provinz Limburg auf Kosten der Niederlande, das gesamte Großherzogtum Luxemburg sowie Teile des Rheinlandes mit einem Zugang zum Rhein bei Duisburg. Schon im Jahr 1916 hatte Nothomb in seinem Buch „La barrière belge“ den Umfang dieser Annexionen skizziert. Die Forderung nach den Kreisen Eupen, Malmedy, Schleiden, Monschau und Bitburg begründete er historisch: Weil diese Gebiete zu den Österreichischen Niederlanden gehört hatten und der junge, 1830 gegründete belgische Staat die Rechtsnachfolge dieses Staates angetreten habe, seien diese Gebiete schon immer belgisch gewesen. Dieser Irrtum müsse nun behoben werden.

    Doch in den Diskussionen um einen möglichen Friedensvertrag konkurrierten verschiedene Sichtweisen: Vor allem nationalistische Politiker in Europa wollten einen Frieden, der dem Verlierer umfangreiche Annexionen und hohe Reparationsleistungen auferlegte. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson hingegen hatte das Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Völker in die Diskussionen eingebracht. Jedes Volk sollte demnach über sein eigenes Schicksal selber bestimmen dürfen. Hierdurch trug Wilson der Demokratisierung vieler europäischer Gesellschaften Rechnung. So sollten vor allem die Minderheitenprobleme in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gelöst werden, die ab Oktober 1918 zerfiel.

    Ab dem 18. Januar 1919 tagten die Siegermächte in Versailles und berieten über einen Friedensvertrag. Belgien konnte seine weitgehenden Annexionswünsche nicht durchsetzen. Der Versailler Vertrag, der am 28. Juni 1919 unterzeichnet wurde und am 10. Januar 1920 in Kraft trat, sollte schließlich nur die Angliederung von Preußisch- und Neutral-Moresnet sowie die der Kreise Eupen und Malmedy vorsehen.

    Für Belgien wie für Frankreich war diese Region von strategischer Bedeutung, um einen erneuten Angriff Deutschlands abzuwehren. Das Gebiet galt gewissermaßen als Vorhof des Lütticher Festungsrings und war das erste Mittelgebirge zwischen dem Rhein und den westlicheren Gebieten.

    Das Gebiet war wald- und wasserreich. Der Waldreichtum sollte zu langfristigen Einnahmen führen und eine Reparation für die durch das deutsche Heer verursachten Schäden darstellen. Das kalkarme Wasser wurde als wichtiger Rohstoff für die Textilindustrie in Verviers angesehen.

    Manche Gebietsabtretungen des Deutschen Reiches traten sofort in Kraft. In anderen Regionen wurde eine freie, geheime und von einer neutralen Macht organisierte Volksabstimmung durchgeführt. Der im Versailler Vertrag festgelegte Modus für die Kreise Eupen und Malmedy war allerdings einzigartig. Hier sollte eine sogenannte „öffentliche Meinungsäußerung“ (public expression of opinion im englischen Originaltext) durchgeführt werden. Diese ermöglichte alleine Proteststimmen in öffentlichen Listen, die in den Kreisstädten Eupen und Malmedy auslagen. Den belgischen Behörden oblag die Organisation dieser Volksbefragung.

    Die Volksbefragung wurde also so organisiert, dass der Anschluss der beiden Kreise an Belgien sehr wahrscheinlich war. Deshalb wurde sie selbst in politischen Kreisen in Brüssel als „petite farce belge“, als Posse, bezeichnet und in Eupen, Malmedy, Sankt Vith und Deutschland als Unrecht empfunden. So kam es, dass sich bis zum 23. Juli 1920 lediglich 271 Personen in die Listen eintrugen und der Völkerbund dem Staatenwechsel der beiden Kreise am 20. September 1920 endgültig zustimmte.

    Es ist fraglich, ob dieses Votum dem Willen der Bevölkerung entsprach.

    Zunächst ein Rückblick: 1825 war die allgemeine Schulpflicht in Preußen eingeführt worden. Hundert Jahre später konnte ein Großteil der Menschen lesen und schreiben. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wuchs die Minderheit jener Haushalte, die eine Zeitung abonniert hatte und somit am überregionalen politischen Leben teilnehmen konnte – auch auf dem Land. In diesem Jahrhundert entstanden auch zahlreiche Vereine und Interessengruppen mit Vorstand und Statuten. Als protodemokratische Einrichtungen auf unterster Ebene verstärkten sie die Forderung nach Teilhabe an Gesellschaft und Politik. Durch Gemeinderatswahlen und Reichstagswahlen entwickelten sich vordemokratische Abläufe. 1920 hatte wohl die Mehrheit der Eupen-Malmedyer die Erwartung, über ihr Schicksal mitentscheiden zu dürfen – ganz im Gegensatz zu 1815.

    Die bisherigen historischen Arbeiten zeigen, dass sowohl Belgien als auch Deutschland die „öffentliche Meinungsäußerung“ mit einem hohen finanziellen und propagandistischen Einsatz begleitet haben. In der Bevölkerung hat es Petitionen, Protest- und Streikaktionen gegeben. Mittlerweile ist man sich in der Geschichtsschreibung einig, dass die Allgemeinheit aber eine passive, abwartende Haltung annahm. Für viele war die Hauptsache, einfach in der Heimat bleiben zu können, egal ob diese nun zu Deutschland oder Belgien gehörte.

    Am 10. Januar 1920 wurden Preußisch- und Neutral-Moresnet direkt Belgien angegliedert. Die Kreise Eupen und Malmedy wurden fortan einem Sonderregime unter Generalleutnant Hermann Baron Baltia unterstellt. Er unterstand alleine dem Premierminister und verfügte sowohl über die gesetzgebende als auch ausführende Gewalt. Dank dieser fast diktatorischen Vollmachten konnte er bis zur endgültigen Eingliederung der nun gebildeten Verwaltungseinheiten, den Kantonen von Eupen, Malmedy und Sankt Vith, auch die Pressefreiheit einschränken. Seine Politik wird rückblickend von der Forschung als moderat und recht verständnisvoll für die neuen Belgier gewertet.

    Im kommunikativen Gedächtnis in Eupen-Malmedy-Sankt Vith nahm diese „öffentliche Meinungsäußerung“ in den kommenden Jahrzehnten viel Raum ein und überschattete die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg. Während sich ein Teil der Bevölkerung mit dem Verbleib in Belgien angefreundet hatte und darin auch Vorteile erkannte, wertete ein anderer Teil der Bürger diese Befragung als Unrecht und undemokratisch. Sie entwickelte sich zum Ausgangspunkt politischer und gesellschaftlicher Spannungen, die die folgenden Jahrzehnte mitbestimmten. Wohl deshalb ist dieser Zeitabschnitt durch die Historiker bisher recht intensiv erforscht und beschrieben worden.

    In Schottland, Katalonien und Flandern gibt es heute einflussreiche politische Meinungsgruppen, die eine Unabhängigkeit anstreben. Sie kündigen die bisherigen Spielregeln des Zusammenlebens in ihren Ländern auf und wollen auch Grenzen verschieben oder neue schaffen. Inwiefern ist das sinnvoll? Wie könnten im Rahmen einer gerechten Volksabstimmung mit knappem Ergebnis die Rechte aller Menschen respektiert werden? Wie kann ein Rechtsstaat auf diese außergewöhnlichen Fragen reagieren?

    • Versailler Vertrag

    • Belgisches Schulwesen

    • Gouvernement Eupen-Malmedy

      Gouvernement Eupen-Malmedy unter General H. Baltia (10.01.1920-01.06.1925)

    • Progymnasium (Athenäum) in Malmedy

    • Volksbefragung

      Volksbefragung (26.01.-23.07.1920)

    • Bistum Eupen-Malmedy

    • Folklore Eupen-Malmedy-Sankt Vith

      In Malmedy wird ein Verein für Volkskunde, Folklore Eupen-Malmedy-Sankt Vith gegründet

    • Erste Parlamentswahlen

      Eupen-Malmedyer nehmen an belgischen Parlamentswahlmen teil

    • Heimatbund

    • O Connell
      Vincent O’Connell
      The Annexation of Eupen-Malmedy. Becoming Belgian, 1919-1929.

      New York 2019.

    • Zoom Umschlag
      Christoph Brüll (Hg.)
      Zoom 1920-2010.

      Nachbarschaften neun Jahrzehnte nach Versailles, Eupen 2012.

    • Doepgen
      Heinz Doepgen
      Die Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy an Belgien im Jahr 1920.

      Rheinisches Archiv, Bd. 60, Bonn 1966.

    • pabst
      Klaus Pabst
      Eupen-Malmedy in der belgischen Regierungs- und Parteienpolitik (1914-1940).

      Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins; Bd. 76, Aachen 1965.