Quelle: ZVS
1920-1939

Zwischen­kriegs­zeit

Wie wichtig ist einem das Zusammenleben mit den Mitbürgern? Geht man auch auf Mitbürger zu, die die eigene Sprache nicht sprechen? Vor dieser Herausforderung standen die Belgier mit ihren neuen Mitbürgern aus Eupen-Malmedy und die Eupen-Malmedyer mit Flamen und Wallonen. Welche Voraussetzungen müssen für eine gelungene Integration erfüllt sein? Haben sich die Bürger aus den Ostkantonen in ihrem neuen Vaterland integriert, konnten und wollten sie es?

  1. Erklärung
  2. Zeitleiste
  3. Lesetipps
  • Integration ist ein wechselseitiger Prozess zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit. Waren 1920 überhaupt die Voraussetzungen geschaffen, damit die Integration der deutschsprachigen Belgier gelingen konnte? Die Vorbehalte in der belgischen Mehrheitsgesellschaft waren groß: Die belgische nationalistische Propaganda hatte immer wieder von den „cantons rédimés“, den wiedergefundenen Kantonen, gesprochen. Flamen und Wallonen entdeckten aber schon bald, dass ein Großteil dieser „wiedergefundenen Brüder und Schwestern“ ebenso wie der ehemalige Feind Deutsch sprachen. Sie hatten nur wenige Französischkenntnisse. Die Verwandtschaft der deutschen und limburgischen Dialekte brachte sie höchstens im Alltag weiter. Sie fühlten sich in überwiegender Mehrheit noch immer als deutsche Staatsbürger und der deutschen Kultur zugehörig. Die Sozialistische Belgische Arbeiterpartei (POB/BWP) hatte vor dieser Angliederung gewarnt. In den konservativ-bürgerlichen Kreisen in Brüssel machte sich allmählich Ernüchterung breit.

    Die Bürger aus Eupen-Malmedy-Sankt Vith waren nun eine sprachliche und kulturelle Minderheit in Belgien. Sie hatten andere politische Erwartungen an den belgischen Staat als ihre belgischen Nachbarn, die um Montzen oder Arlon noch einen deutschen Dialekt redeten. Die Mehrheit der neuen Belgier verstand die Sprache(n) des neuen Vaterlandes nicht. Doch investierte der belgische Staat recht schnell in Infrastruktur und öffentliche Bauten (Schulen, Kirchen), wodurch u.a. auch Arbeitsmöglichkeiten geschafft wurden.

    Nach 1925 blieben klare Signale zugunsten der Eupen-Malmedy-Sankt Vither aus Brüssel aus. In der belgischen Innenpolitik konkurrierten unterschiedliche Visionen: Eine Meinungsgruppe setzte auf die weitgehende Assimilierung der Region. Sie sollte über eine schrittweise Einführung der französischen Sprache in den Schulen und in der Verwaltung erreicht werden. Diese Grundhaltung entsprang jenem kolonialen Denken der Jahrhundertwende, das Souveränität mit einem Überstülpen von eigenen Werten, eigener Kultur und Sprache verband. Eine andere Meinungsgruppe setzte auf Respekt und kulturelle Toleranz. Diese freiheitliche Vision gründete auf den liberalen Grundsätzen des belgischen Staates.

    Die bisherige Forschung hat gezeigt, dass eine dauerhafte Integration der deutschsprachigen Belgier während der Zwischenkriegszeit nicht gelungen ist.

    Manche Ereignisse waren unglücklich. 1926 wählten die neuen Belgier mit überwiegender Mehrheit den Vervierser Anwalt Jenniges als „ihren“ Kandidaten. Zunächst galt er als gewählt, bevor sich herausstellte, dass die Stimmen zum Einzug ins Parlament nicht ausreichten. Damit wurde das Vertrauen in die belgische Demokratie erneut erschüttert.

    Zwischen 1926 und 1929 führten Belgien und Deutschland geheime Rückgabeverhandlungen. Während des Kriegs hatte die Besatzungsmacht eine bedeutende Summe an Reichsmark in Belgien eingeführt. Das Geld hatte nun seinen Wert verloren. Um diese Frage endlich zu lösen, wurde in Betracht gezogen, die Ostkantone gegen diese bedeutende Geldsumme einzutauschen. Beide Länder wurden sich weitgehend einig. Als die Verhandlungen durch einen Journalisten an die Öffentlichkeit gelangten, legte Frankreich ein Veto ein. Es wollte nicht, dass auch nur ein Punkt des Versailler Vertrags geändert wurde. Dies war ein zweites unglückliches Ereignis, das das Vertrauen der deutschsprachigen Belgier in ihr neues Vaterland erschütterte.

    Gleichzeitig behinderte die junge Weimarer Republik bewusst eine Integration der Eupen-Malmedy-Sankt Vither in den belgischen Staat. In Deutschland wurde der Vertrag von Versailles als „Diktat von Versailles“ einhellig abgelehnt. Ab 1925 setzten deutsche Regierungsstellen eine geheime Deutschtumspolitik in Eupen-Malmedy-Sankt Vith fort, die schon von 1920 bis 1923 geführt worden war. Sie förderte einerseits die deutsche Sprache und Kultur, andererseits den Rückkehrwillen nach Deutschland. Verbände, Organisationen und Vereine aus Kultur, Wirtschaft und Politik erhielten finanzielle und ideelle Unterstützung. Diese Politik nennt man Irredentismus.

    Der Konflikt war bis 1933 ein nationalistischer: Die Bürger in „Neubelgien“, wie das Gebiet in der Zwischenkriegszeit genannt wurde, sollten sich zwischen dem demokratischen belgischen und dem demokratischen deutschen Vaterland entscheiden. Diese Spannungen erhielten ab 1933 durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland eine neue Qualität. Nun konkurrierten nicht mehr zwei demokratische Staaten um die Gunst der Neubelgier, sondern eine Demokratie und eine menschenverachtende Diktatur. Historische Arbeiten zeigen, dass viele Bürger der Ostkantone diesen Unterschied damals nicht gemacht haben.

    Die meisten Einwohner der Ostkantone haben damals eine abwartende und anpassende Haltung eingenommen. Sie ließen sich von ihren eigenen, kurzfristigen Interessen leiten: 1929 wählten mehr als 75 Prozent der Wahlberechtigten demokratische Parteien, die sich für eine Rückkehr nach Deutschland oder eine geheime Volksabstimmung aussprachen. 1939 erhielt die Heimattreue Front, die deutsch-national eingestellt war und auch dem NS-Regime nahestand, 45 Prozent der Stimmen. Offen nationalsozialistische Tarnorganisationen zählten rund hundert Mitglieder. Zu ihnen gehörten der Segelfliegerverein in Eupen (mit der gleichen Struktur wie die SA in Deutschland), der Saalschutz in Malmedy oder die Bogenschützen in Sankt Vith.

    Diese pro-deutschen Parteien und Organisationen versuchten eine Integration in Belgien zu verhindern. Die pro-belgischen Parteien strebten diese hingegen an. Letztere waren auch bereit, sich über nationale Mutterparteien politisch einzubringen und am innerbelgischen politischen Leben teilzunehmen.

    Für den belgischen Staat, der erst ab 1930 die Integration der deutschsprachigen Belgier aktiv förderte, stellte sich vor allem nach 1933 die Frage, wie eine Demokratie mit jenen politischen Gruppierungen umgehen sollte, die sich offen gegen diesen demokratischen Staat stellt und jegliche Integration verhindern will. Ein Mittel war das Ausbürgerungsgesetz, das 1934 verabschiedet und nur 1935 gegen vier Bürger aus Eupen-Malmedy-Sankt Vith angewandt wurde. Es war umstritten, da es gegen das verfassungsrechtlich verankerte Gleichheitsgebot verstieß und zwischen Belgiern von Geburt und solchen, die die belgische Staatsangehörigkeit erst erworben hatten, unterschied.

    Die Frage, warum die Integration der deutschsprachigen Belgier mehr schlecht als recht gelungen war, lässt sich nicht alleine an der politischen Geschichte ablesen. Ein Beispiel: Zeitungs- und Radiolandschaft waren vornehmlich auf das alte Vaterland Deutschland ausgerichtet. Auch sie verhinderten die Integration.

    Ein zweites Beispiel: Die Weltwirtschaftskrise verschärfte auch in Ostbelgien die gesellschaftlichen Spannungen. Bestes Beispiel ist die Stadt Eupen, für die grassierende Arbeitslosigkeit (bis zu 1.000 Arbeitslose bei 14.000 Einwohnern), Indexsprünge, Notstandssteuern u.a. nachweisbar sind. Die Bevölkerung erlebte die Krise zwar mit etwas Verspätung im Jahr 1931. Sie sah aber auch, dass das nationalsozialistische Deutschland die Krise in den darauffolgenden Jahren schneller als Belgien überwand.

    In der kommunikativen und kulturellen Erinnerung ist die Zwischenkriegszeit als eine Zeit der Polarisierung zwischen „pro-deutschen“ und „pro-belgischen“ Meinungsgruppen mit einer weitgehenden Kommunikationsverweigerung in Erinnerung geblieben. Die Frage, inwiefern die Menschen einem „situativen Opportunismus“ folgten, wurde erst in neueren Arbeiten gestellt.

    Heute sind Minderheitenrechte in der politischen Kultur Europas fest verankert. Das Recht, die Muttersprache sprechen zu dürfen, in dieser Sprache unterrichtet zu werden oder vor Gericht aussagen zu dürfen, ist anerkannter Teil der Menschenrechte. Mehrheitsgesellschaften tendieren dennoch immer wieder dazu, Minderheiten assimilieren zu wollen. Sie versuchen ihnen die Mehrheitssprache aufzuzwingen. Der Respekt vor den Minderheitensprachen und die Gewährung von grundlegenden Rechten fördert die Bereitschaft von Minderheiten, sich in eine Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Andererseits ist es wichtig, dass Minderheiten sich der Sprache und Kultur der Mehrheitsgesellschaft öffnen.

    • Belgisches Schulwesen

    • Gouvernement Eupen-Malmedy

      Gouvernement Eupen-Malmedy unter General H. Baltia (10.01.1920-01.06.1925)

    • Progymnasium (Athenäum) in Malmedy

    • Volksbefragung

      Volksbefragung (26.01.-23.07.1920)

    • Bistum Eupen-Malmedy

    • Folklore Eupen-Malmedy-Sankt Vith

      In Malmedy wird ein Verein für Volkskunde, Folklore Eupen-Malmedy-Sankt Vith gegründet

    • Erste Parlamentswahlen

      Eupen-Malmedyer nehmen an belgischen Parlamentswahlmen teil

    • Heimatbund

    • Talsperre Bütgenbach und Robertville

      Bau der Talsperren Bütgenbach und Robertville

    • Knabenschule Sankt Vith

      Städtische höhere Knabenschule Sankt Vith

    • Gründung Grenz-Echo

    • Steyler Missionare

      Steyler Missionare gründen das Kloster St. Raphael in Montenau

    • Gründung der Christlichen Volkspartei (CVP)

    • Eröffnung des Wetzlarbads in Eupen

    • Zentralmolkerei Büllingen

    • Ausbürgerungsgesetz

    • Gründung Molkerei Walhorn

    • Baubeginn Wesertalsperre

    • Gründung der Heimattreuen Front

    • Deutschsprachige Rundfunkvereinigung

      DRB (Dt. Rundfunkvereinigung Belgiens) sendet erstmals in dt. Sprache aus Eupen

    • Zweiter Weltkrieg

      Zweiter Weltkrieg: 4000 Tote aus Ostbelgien

    • grenzerfahrungen-band4
      Carlo Lejeune, Christoph Brüll, Peter M. Quadflieg (Hg.)
      Grenzerfahrungen. Eine Geschichte der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens.

      Band 4: Staatenwechsel, Identitätskonflikte, Kriegserfahrungen (1919-1945), Eupen 2018.

    • pabst
      Klaus Pabst
      Eupen-Malmedy in der belgischen Regierungs- und Parteienpolitik (1914-1940).

      Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins; Bd. 76, Aachen 1965.

    • Beck
      Philippe Beck
      Umstrittenes Grenzland. Selbst- und Fremdbilder bei Josef Ponten und Peter Schmitz, 1918-1940.

      Comparatism & Society, Bd. 21, Brüssel 2013.

    • christmann
      Heidi Christmann
      Presse und gesellschaftliche Kommunikation zwischen den beiden Weltkriegen.

      Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München, München 1974.