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Erklärung

Der Erste Weltkrieg gilt als „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Er veränderte die Welt dramatisch. Allein die Analyse der Kriegspropaganda zeigt, wie Menschen manipuliert, wie Medien politisch instrumentalisiert und Feindbilder aufgebaut und verbreitet werden können.

Der Blick auf das heutige Ostbelgien als Grenzregion zeigt, dass die Erinnerung an dieses Ereignis sehr unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Der Erste Weltkrieg ist in Belgien, Frankreich oder England als der „Große Krieg“ in die Geschichte eingegangen. Im Zuge des Einfalls in das neutrale Belgien begingen die deutschen Truppen 1914 vielerorts Kriegsverbrechen (wie die Erschießung von rund 6.000 Zivilisten). Sie brannten Dörfer und Städte nieder, deportierten tausende belgische Zwangsarbeiter und wälzten die Besatzungskosten auf belgische Gemeinden ab. Sie ließen die Bevölkerung aushungern. Zudem blieben Teile Belgiens während vier Jahren Kriegsschauplatz und wurden weitgehend zerstört. Diese Erfahrungen brannten sich tief in das kommunikative Gedächtnis der Belgier ein.

Die heutigen Ostbelgier haben eine völlig andere Erinnerung. Fast hundert Jahre hatten sie zum Königreich Preußen, bzw. zum Deutschen Reich gehört, als dieser Konflikt entbrannte. Die Menschen fühlten sich 1914 als deutsche Staatsbürger. Selbst die Wallonen in und um die Stadt Malmedy beschrieben sich mehrheitlich als patriotische „preußische Wallonen“.

Das Militärlager Elsenborn sowie das gesamte deutsch-belgische Grenzgebiet waren im August 1914 Aufmarschgebiet des deutschen Heeres. In seinen Reihen kämpften auch die Soldaten aus den Kreisen Eupen und Malmedy. Vor 1914 waren aus strategischen Gründen mehrere Eisenbahntrassen Richtung Westen gebaut worden. Auf ihnen wurden nun zigtausende Soldaten transportiert und der Truppennachschub organisiert. Der Krieg war für jeden spürbar: durch Truppendurchzug, die Einquartierungen und die Einrichtung von Lazaretten in der Region. Selbst der Artilleriebeschuss der Verteidigungsanlagen vor Lüttich war für viele Einwohner der Grenzkreise zu Kriegsbeginn zu hören.

Von Anfang an wurde dieser Krieg propagandistisch begleitet: Der deutsche Kaiser und die Politiker beschworen in der Lokalpresse die Einheit des Volkes. Militärische Aktionen des deutschen Heeres wurden glorifiziert. Der Gegner wurde lächerlich gemacht bzw. als harmlos oder hinterhältig dargestellt. Direkte Zeugen vermeintlicher belgischer Grausamkeiten wurden aufgefordert, sich auf den Bürgermeisterämtern des Kreises Malmedy zu melden und ihre „Beobachtungen“ zu Protokoll zu geben.

Schon seit 1914 waren die Deutschen zum Abschluss von Kriegsversicherungen oder der Zeichnung von Kriegsanleihen aufgefordert worden. Der Vaterländische Frauenverein (VFV) sammelte „Liebesgaben“ für die Soldaten, die per Bahn verschickt und in der Presse durch Ergebnisberichte begleitet wurden. „Die Pflicht eines jeden deutschen Untertans ist es, das in seinem Besitz befindliche Gold an die öffentlichen Kassen, Post oder Sparkassen, abzuliefern, damit es diese an die Reichsbank abführen können“, hieß es in einem anderen Aufruf.

Noch spürbarer wurde der Krieg durch die Einberufung der jungen Männer in das deutsche Heer. In der Presse und auf den Ämtern fanden sich aber auch Aufrufe zur Meldung von Freiwilligen sowie Hinweise, dass Verlustlisten bei den Behörden zur Einsicht auslagen oder dass Einberufene steuerfrei waren. Der Kaiser kündigte an, Deserteuren und Auswanderern einen Gnadenerlass zu gewähren, wenn diese sich zum Heer meldeten. Immer länger werdende Listen von getöteten Soldaten und die zunehmende Zahl von Todesanzeigen gefallener Soldaten gaben dem Krieg in der Lokalpresse viele Gesichter. Insgesamt kostete der Erste Weltkrieg 17 Millionen Menschen das Leben. Aus dem Kreis Eupen wurden 766 Soldaten und aus dem Kreis Malmedy 1.082 Soldaten getötet – insgesamt 1.848 gefallene Soldaten.

1916 wurde das Hindenburg-Programm verabschiedet. Nun wurde die deutsche Wirtschaft vollständig auf den Krieg ausgerichtet. Weil zudem die Ernten von 1916 und 1917 außergewöhnlich schlecht waren, wurde der Krieg nun für jeden Bürger spürbar – auch auf dem Land: Die Versorgung der Bevölkerung wurde massiv eingeschränkt, jeder hatte nun zum Krieg beizutragen. Selbst Kinder wurden im Klassenverband immer wieder bei der Kartoffel- oder Rübenernte oder zum Sammeln von Bucheckern, Pilzen, Beeren u.a. eingesetzt.

Die Front wurde immer enger mit der Heimat verflochten: An den Kampflinien kämpften Soldaten und an der Heimatfront arbeiteten und verzichteten die Daheimgebliebenen zugunsten der Frontsoldaten. Dem Erfolg der kämpfenden Truppe wurde alles untergeordnet. Die Feldpost entwickelte sich zur praktischen und wichtigsten Verbindung.

Einblicke in das Schicksal der belgischen, luxemburgischen oder niederländischen Nachbarn, in ihr Leiden und Hoffen gab es nicht. Nicht nur während des Krieges, sondern auch danach blickte jeder vorwiegend auf das selbst erlebte Leid.

Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hat sich in Ostbelgien in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Hierzu trägt vielleicht der 11. November bei. Er zeigt beispielhaft die Zerrissenheit der Ostbelgier: Als Waffenstillstandstag ist er seit 1922 ein gesetzlicher Feiertag in Belgien, Frankreich und Luxemburg, aber nicht in Deutschland. An diesem Tag soll der Opfer des Ersten Weltkrieges gedacht werden. Dies geschieht in Ostbelgien aus einer besonderen Perspektive. In Eupen zum Beispiel spielt die Kapelle zuerst das deutsche Stück Der gute Kamerad, dann das Hornsignal The Last Post und schließlich die belgische Nationalhymne. Im Rheinland hingegen wird dieser Tag als offizieller Start in die Karnevalssaison gefeiert. Auch zahlreiche Ostbelgier feiern diesen Auftakt in Köln oder in Ostbelgien. Das überdeckt den Grundgedanken dieses offiziellen Feiertages. Anders ausgedrückt: Die Vorfahren der meisten Ostbelgier gehörten zu den Verlierern dieses Kriegs, einige der Nachkommen feiern dafür heute umso ausgelassener als Belgier an diesem Gedenktag den Karnevalsanfang.

Bilder aus dem Ersten Weltkrieg gibt es abertausende. Wo aber sind die Bilder der ehemaligen Feinde, der Franzosen, Engländer, Russen oder Belgier in den privaten Fotoalben? Medien und Gruppen lassen sich ganz einfach instrumentalisieren, um ein vermeintlich wichtigeres Ziel zu erreichen. Man stellt sich vor, Personen des eigenen Jahrgangs würden für einen Kriegseinsatz umworben. Würden die Menschen heute genauso naiv in einen Krieg ziehen wie die jungen Männer, Frauen und Familien 1914? Oder wären sie aufgeklärter? Wie erkennt man Propaganda heute und wie schützt man sich davor?