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Bildgeschichte

Was ist schon Wirklichkeit?

7.09.2022
  • Labor
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Auf den Titelseiten der Hochglanzmagazine strahlen uns Frauen und Männer an, die auf diesen Abbildungen fast unwirklich schön sind. Wer im Internet recherchiert, findet Alltagsbilder dieser Stars: ungeschminkt, ungeschönt, einfach menschlich. Die Darstellungen der Geschminkten haben meist wenig gemein mit denen der Ungeschönten. Photobearbeitung ist heute alltäglich, doch ist Photoretusche ist so alt wie die Photographie selber.

Schon Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Photographie geboren wurde, gehörte es zur Arbeit des Photographen, die technisch nicht immer einwandfreien Bilder aufzuwerten, zu retuschieren. Dies war der Allgemeinheit im 20. Jahrhundert nur selten bewusst. Kleine, kompakte und handliche Apparate, die jedem zugänglich und einfach zu bedienen waren, machten das Photographieren für jeden zugänglich. Doch das Bearbeiten von Photos erforderte generell technische Kenntnisse und ein Photolabor und wurde daher nur von Sachkundigen vorgenommen.

Unter historischen Persönlichkeiten ist unter anderem Stalin dafür bekannt, gewisse Gegner von Lichtbildern entfernt zu haben. Bildmanipulationen gehören in totalitären Regimen zum Programm, um Darstellungen nach Beliebe anzupassen.

Dies gilt auch für den Film. Leni Riefenstahl passte beispielsweise in ihren Filmen die reale Welt durch geschickte Manipulationen an. So instrumentalisierte sie die Emotionen der Zuschauer und schaffte idealisierte Darstellungen des ‚Dritten Reiches‘.

Heute spielen in der Medienberichterstattung manipulierte Nachrichten, Bilder und Filme („Fake News“) eine zunehmend wachsende Bedeutung. Das Unterscheiden von Realität und manipulierter Wirklichkeit ist zu einer fast alltäglichen Herausforderung geworden.

1935 erschien das Buch „Die Kunstdenkmäler von Eupen-Malmedy“. Heribert Reiners und Heinrich Neu inventarisierten Kirchen, Kapellen und Sakralgegenstände Ostbelgiens. Andere Autoren legten fast zeitgleich ähnliche Werke für andere Kreise des Rheinlands vor. Sie stellten die Kunstdenkmäler über eine historische Einordnung in einen lokalgeschichtlichen Rahmen. Diese wichtige Arbeit inspiriert bis heute die Lokalhistoriker. Ein Teil der damals gemachten Bilder ist erhalten.

Die Aufnahme des Ortes Neundorf (wohl aus dem Jahr 1933 oder 1934) liegt in zwei Versionen vor, die kurz hintereinander aufgenommen wurden. 1929 wurde der Ort elektrifiziert. Auf einer Aufnahme sind die Strommasten im Ort zu sehen. Auch ein Pferdefuhrwerk befährt die Dorfstraße. Auf einer zweiten, leicht versetzten Aufnahme sind die Strommasten ebenso wegretuschiert wie das Fuhrwerk.

Im 1935 gedruckten Buch taucht alleine die retuschierte Fassung auf. Warum die Autoren dies so wünschten, darüber können wir nur spekulieren. Der Anschluss ans Stromnetzwerk konnte damals als Zeichen der Moderne gedeutet werden. Wollten die Autoren ein Propagandabild eines rückständigen, stromlosen Belgiens zeigen? Wollten sie dem Leser ein Bild fast perfekter Dorfidylle unterjubeln? Oder wurden die Masten und das Fuhrwerk einfach aus ästhetischen Gründen entfernt?

Carlo Lejeune/Philippe Beck
Nach ZVS, 2017/04, S. 92; 2017/06, S. 142; 2017/08, S. 187.